Ausstellungstext Darja Linder – MUTE
Was bleibt, wenn Sprache verloren geht? Wenn Bilder, Gesten und körperliche Erinnerungen zur einzigen Möglichkeit werden, das Erlebte weiterzugeben? Darja Linder ergründet diese Fragen in ihrer künstlerischen Arbeit. In Gemälden, Installationen und Videoperformances erzählt sie von Entwurzelung und vererbtem Schweigen, von weiblichen und weiblich gelesenen Körpern, die zur Projektionsfläche gesellschaftlicher und persönlicher Zuschreibungen werden.
Als Kind migrierte sie mit ihren Eltern aus der ehemaligen UdSSR nach Deutschland. Ausgehend von dieser biografischen Prägung verhandelt Linder in ihren Arbeiten Themen wie transgenerationale Traumata, Mutter-Tochter-Beziehungen und die Suche nach Identität in westlicher Popkultur. In einem Spiel zwischen Aneignung und Abgrenzung kapitalistischer Dynamiken verbindet sie persönliche Narrative und gesellschaftliche Analysen, legt Schichten von Stereotypen, Rollenbildern und struktureller Ungleichheit frei, die oft tief verwurzelt, aber kaum greifbar sind.
“oh baby, baby, how was I supposed to know”: Die Gemälde und Installationen in der Ausstellung MUTE im Centre d’Art Dudelange tragen häufig Lyrics aus Songtexten als Titel, denn Popstars entwickelten sich in der Jugend der Künstlerin zu einer zentralen Identifikationsfläche und dienten zur Verortung in der westlichen Kultur. Allen voran Britney Spears, denn sie war “so gar nicht Ostblock und das ist alles, was ich immer sein wollte”. Wenn man keine eigene Sprache oder Stimme hat um sich auszudrücken, finden sich die passenden Worte und Gefühle oft in Songtexten.
Die Protagonistinnen in MUTE treten meist im Selbstporträt auf, als Matroschka, Cyborg, Pop Prinzessin und Lorelei; als beobachtete, bewertete, begehrte Frau, als Künstlerin/Muse, Mutter/ Tochter, deren Körper und Identität von Erwartungen durchdrungen sind. Die Matroschka wird in der russischen Kultur eng mit Werten von Familie, Weiblichkeit und Fruchtbarkeit assoziiert. In der Videoinstallation “roots” (2025) verkörpert die Künstlerin selbst die Puppe in der Puppe in der Puppe – ausdruckslos, still und identisch. Stets Mutter und Tochter zugleich steht sie sinnbildlich für das unvermeidliche (?) Vererben von Rollenbildern und Traumata. Ein weiteres zentrales Werk der Ausstellung, „born to make you happy“ (2024), offenbart: schon der Blick auf ein weiblich gelesenes Baby trägt die Last der Erwartung. Selbst das Ungeborene wird bereits adressiert, gerahmt und kodiert.
“I tell my story with words that are not mine, I lost my mother’s tongue. My body carries fear and anger and a daughter. I had to find my mother’s past. To feel their grief – they could not speak.”
Als schwangere Frau und nun Mutter reiht sich Linder in eine lange Bildtradition, doch beginnt diese zu hinterfragen und zu durchbrechen. Die Werke in der Ausstellung MUTE stellen den Beginn einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Übergang von der Tochter zur Mutter dar. Eine Transformation, die auch beinhaltet, fremd zu sein, eine neue Heimat, ein erweitertes Selbst zu suchen und zu finden. Die Künstlerin schöpft aus verkörpertem Wissen, aus der Erfahrung des Vertrieben-Werdens, der Unmöglichkeit des In-Worte-Fassens von Traumata, aus der Sprachlosigkeit und Ohnmacht ihrer Vorfahren, die sie erbt und nicht weitervererben wird. Sie findet eine Stimme – ihre Stimme – und spricht über das Schweigen, über Mutterschaft und Migration und von Hoffnung.
Darja Linder eignet sich die Macht ihres Körpers, ihrer Sexualität, ihrer Geschichte an und benutzt sie als Protest. Die künstlerische Adaption fragwürdiger Identitätsbilder und die verschiedenen Rollen die sie verkörpert, setzen sich kritisch mit patriarchalen Machtstrukturen auseinander und spiegeln zugleich kollektive Erfahrungen marginalisierter Gruppen wider. Die Ausstellung MUTE ist auch der Versuch, die eigene Geschichte und Identität in Worte zu fassen und in ihrer Beziehung zu sich selbst und zu ihrer Tochter ein neues Kapitel zu schreiben. Darja Linder & Katja Pilisi
Bildangaben:
Born to make you happy (2025)
140x200cm
Öl und Acryl auf Leinwand
Foto: Darja Linder, Ausstellungsansicht in der Saarländischen Galerie, Berlin